Nigel-Kennedy-SHHH

Nigel Kennedy – Shhh!

Seit Jahrzehnten ist Kennedy einer der weltweit führenden Violinvirtuosen und das nicht nur mit klassischem Repertoire.

Nigel-Kennedy-SHHH
Nigel Kennedy "SHHH" Album

Schon während seines Studiums an der renommierten New Yorker Juilliard School besuchte er nicht nur den üblichen Unterricht, sondern spielte zum Schrecken der Dozenten mit Jazz-Altmeister Stéphane Grappelli um die Wette.

„Ich bin von Natur aus ein Improvisator“,so der Geiger. Das beweist er auf’s Faszinierendste mit seinem neuen Album Shhh! ein Gemeinschaftswerk seines Quintetts und Sänger Boy George.

„Ich schrieb den Song, der dem Album seinen Namen gab, in relativer Stille“, so Kennedy. „Weil er entsprechend ruhig ausfiel, dachte ich über einen Titel nach,der gleich eine Art Gebrauchsanweisung für den Geräuschpegel der Umgebung mitliefern sollte. Wenn in einem Club ruhige Songs gespielt werden, gibt es immer eine bescheuerte Gruppe von Leuten, die sich laut unterhält, bis sie von jemandem mit einem ’Shhh!’ um Ruhe gebeten wird.“

Kennedy bietet mit dem Album, das stilistisch in die Kategorie Electric Jazz gehört, eine immense Weiterentwicklung seiner Kunst und der seines Quintetts, mit dem er 2009 A Very Nice Album vorlegte.

Offenheit jeder Stilrichtung gegenüber ist, wenn man so will, das Geheimrezept, mit dem Kennedy, der seit Jahren in Polen lebt, nicht nur mit schlafwandlerischer Sicherheit immer wieder neue Musik kreiert, sondern auch große Künstler zu Partnern macht.

So Boy George im Song Riverman – eine Nummer in Tom-Waits-Manier, die zeigt,dass auch für diesen Sänger seit den Tagen von Culture Club eine große Entwicklung stattgefunden hat!

Nigel Kennedy im Interview am 3. März 2010

1. Ist der Titel Ihrer neuen CD SHHH! eine Aufforderung zur Ruhe oder eine Aufforderung zum konzentrierten Zuhören?

Nigel Kennedy: Es steckt ein bisschen von beidem drin. Ich schrieb den Song, der dem neuen Album seinen Namen gab, in relativer Stille und weil er entsprechend ruhig ausfiel, dachte ich über einen Titel nach, der gleich eine Art Gebrauchsanweisung für den Geräuschpegel der Umgebung mitliefern sollte, in dem er gehört werden kann. SHHH! ist geradezu perfekt dafür. Aber geht auch auf meine Beobachtungen bei Konzerten von Jazzbands und Improvisationsensembles in Clubs zurück. Wenn dort ruhige Songs gespielt werden, gibt es immer eine bescheuerte Gruppe von Leuten, die sich überaus laut unterhält, bis sie von jemandem im Publikum mit einem schrillen ?Shhh!? um Ruhe gebeten wird.

2. Wie haben Sie Boy George dazu bewegen könne, den Song Riverman in Tom Waits-Manier zu interpretieren?

Nigel Kennedy: Ich musste ihn gar nicht groß um diese spezielle Art der Gesangsinterpretation meines neuen Songs bitten. Er kam ins Studio und sang den Song ohne Anweisung von mir ziemlich schnell ein. Er hat sich seit den Karma Chameleon-Tagen mit seiner Band Culture Club als Persönlichkeit ganz offenbar enorm weiterentwickelt. Boy George hat eine Menge mehr Lebenserfahrung als viele seiner Zeitgenossen und die hat einen Einfluss auf seinen Gesang in Riverman.

3. Markiert das neue Album für Sie eine weitere Facette Ihrer ohnehin schon vielseitigen Karriere?

Nigel Kennedy: Ja, denn sie ist eine Weiterentwicklung meiner CD A Very Nice Album, die im letzten Jahr erschien. Wenn man so will, leuchtet die neue CD die vielschichtigen Möglichkeiten meines Jazzquintetts noch ein bisschen weiter aus. Damit passt sie ganz hervorragend in meine Reputation eines vielseitigen Musikers. Und deswegen ist auch Boy George auf der CD zu hören. Ich kann, wenn ich will, alles und mit jedem spielen, weil ich mir eine Offenheit gegenüber jedermann bewahrt habe, was meine Auffassung vom Musikmachen generell spiegelt.

4. Sie werden im April und Mai 2010 Ihr Bach-Ellington-Programm in 17 deutschen Städten präsentieren. Welche Parallelen gibt es zwischen Bach und Duke Ellington?

Nigel Kennedy: Die Verbindung zwischen Ellington und Bach ist der ausgeprägte Reichtum an Harmonien der beiden Komponisten. Darin liegt deren jeweilige Stärke begründet. Ihre Art der Orchestrierung ist eine weitere Parallele. In deren Kompositionen gibt es kaum Dopplungen, weil sie die Platzierung der Klangfarbe eines Instruments exakt planten. Die Klarheit und Präzision in der Präsentation ihrer Musik fasziniert mich.

5. Aus gegebenem Anlass wird zeitgleich zu SHHH! Ihre erfolgreiche CD Kennedy Plays Bach aus dem Jahr 2000 in einer Neuauflage wiederveröffentlicht. Welche Rolle spielt Bach in Ihrer Karriere?

Nigel Kennedy: Eine enorm große Rolle! Mein Studium mit Yehudi Menuhin glich einer Wegweisung Richtung Bach, weil Menuhin einer der tonangebenden Violinisten in der Bach-Interpretation war. Er trug viel zur weltweiten Popularität der Solosonaten von Bach bei. Für mich besitzt Bach seither jedes Element großartiger Musikkunst ? herausragende kompositorische Architektur, wunderschöne Melodien, starke Harmonien. Er wird immer ein Barock-Komponist bleiben, aber in meinen Augen überwindet sein Werk die Epochen, weil er Romantikern wie Chopin den Weg geebnet hat mit seinen Harmonien.

6. Bietet Bach Ihnen genügend Raum, um Nigel Kennedy sein zu können?

Nigel Kennedy: Wenn er keinen Platz für Individualismus bieten würde, wäre sogar Bach ein langweiliger Komponist trotz aller Vorzüge seiner Musik. Glenn Goulds Bach-Interpretationen sind nach wie vor populär, weil sie zur Hälfte auf Bachs, zur anderen Hälfte auf sein Konto gehen. Bach bietet mir genügend Platz, um meine eigenen Emotionen ausdrücken zu können, was mein eigentlicher Beweggrund für die Kommunikation mittels Noten ist.

7. Viele Bassisten benennen Bach als Einfluss wegen seines rhythmischen Verständnisses.

Nigel Kennedy: Davon besitzt er sicher eine ganze Menge, aber ich habe nicht den Kopf eines Bassisten. Ich bin mir nicht mal sicher, ob Bassisten überhaupt viel Gehirn besitzen! Nein, das war nur ein Scherz. Wie viel rhythmisches Verständnis in Bachs Musik liegt, zeigt sich während meiner kommenden Konzerte in Deutschland, weil ich sie sowohl mit dem Orchestra of Life als auch mit meinem Quintett bestreiten werde. In manchen Stücken wird das Quintett ein Teil des Orchesters, und weil es eher am Groove orientiert ist als das Orchester, tritt die rhythmische Finesse Bachs vielleicht ein Stück mehr in den Vordergrund.

8. Ist Ihr Bach-Ellington-Programm eine Reminiszenz an die Schnittmenge der beiden Komponisten oder eher eine Huldigung Ihrer eigenen Vielseitigkeit?

Nigel Kennedy: Ich würde die Programmgestaltung keine Huldigung, sondern eher eine Fortsetzung meines Wegs als Musiker nennen. Schon als Student sah ich keine Notwendigkeit darin, mich entweder für die Klassik oder den Jazz entscheiden zu müssen und jetzt ergäbe die Selbstbeschränkung erst recht keinen Sinn mehr. Ich finde es idiotisch, wenn Musiker nicht ihr Potenzial nutzen, in dem sie sich auf ein Genre festlegen lassen. Ich mag Bach, Bartók, James Brown, Brahms, Hendrix, Ellington, Chopin, Barock und Swing. Entsprechend gestalte ich meine Konzertprogramme.

9. Welches war Ihr bislang bizarrstes Konzerterlebnis?

Nigel Kennedy: Mein Brahms-Konzert für den britischen Botschafter in Washington. Eine Geigensaite riss, und meine Ersatzsaiten hatte ich im Hotel vergessen. Ich musste dem Publikum das frühe Ende des Konzerts mitteilen und blickte ausschließlich in glückliche Gesichter.

10. Ihr schönstes Konzerterlebnis?

Nigel Kennedy: Das erlebe ich immer, wenn ich den Kontakt zwischen meinem Publikum und dem Geist des Komponisten herstellen kann. Dann herrscht Magie im Konzerthaus.