Als die Schulfreude Douglas McCarthy, Bon Harris und David Gooday 1982 eine Band formierten und ein Jahr darauf das Demotape „Basic Pain Procedure“ aufnahmen, ahnten sie noch nicht, dass sie Musikgeschichte schreiben würden.
Ihr Sound war rau und ungeschliffen, eine elektronische Adaption der abklingenden Punkbewegung. Mit minimalen Mitteln, Drums, einem Sequencer und der durchdringenden Stimme McCarthys führte das Trio fort, was DAF und Die Krupps wenige Jahre zuvor angestoßen hatten – nur konsequenter und deutlich aggressiver. Ihr Name: Nitzer Ebb. Möglichst hart und deutsch klingend, hatte er noch keinerlei Bedeutung, doch wird er neben Front 242 schon bald als Synonym für eine wichtige neue musikalische Strömung stehen: Electronic Body Music, kurz EBM.
GOLD!
Die ersten 12“-Maxis „Isn’t It Funny How Your Body Works“ (1984) und „Warsaw Ghetto“ (1985) weckten das Interesse von Daniel Miller, der Nitzer Ebb für Mute Records signte und 1987 das Debütalbum „That Total Age“ herausbrachte. Er schickte seine neuen Schützlinge mit Depeche Mode auf deren zweiten Teil der „Music For Masses“-Tour durch Europa. Der Durchbruch. Die drei folgenden Alben produzierte Flood, ein Meister seines Metiers. Sie machten aus den ungehobelten, zum Duo geschrumpften Boys ernst zu nehmende Musiker: „Belief“ von 1989 präsentierte sich songorientierter, „Showtime“ (1990) machte Platz für dezente Elemente aus Jazz und Blues. „Ebbhead“ von 1991 räumte schließlich komplett mit dem teutonischen Haudrauf-Sound der Anfangsjahre auf und war mit der eingängigen Kombination von Electro, Dance und Rock seiner Zeit weit voraus. In den USA, wo Nitzer Ebb kurz zuvor erneut im Vorprogramm von Depeche Mode spielten, wurde es gleich hundertausendfach verkauft und gilt als eines der Schlüsselwerke für die aufkommende Industrial-Welle. Mit dem Erfolg kamen die Probleme: Das rockige Album „Big Hit“ geriet Ende 1995 zur Zerreißprobe und besiegelte schließlich das Aus für Nitzer Ebb.
BURN!
Kurz nach der Jahrtausendwende regte es sich wieder im Lager der mittlerweile bis nach Amerika verstreut lebenden Band, zunächst noch verhältnismäßig leise mit diversen Remixveröffentlichungen, dann mit einem Knall: Douglas McCarthy und der Franzose Terence Fixmer taten sich als Fixmer/McCarthy zusammen und ließen den Techno-EBM-Bastard „Between The Devil…“ vom Stapel. Bei den Anhängern von Nitzer Ebb, die sich im Laufe der Jahre stetig verjüngen konnten, traf diese auf den Punkt produzierte Liaison den richtigen Nerv. Vor allem Live wurde deutlich, wie sehr man sich nach den energiegeladenen Performances des begnadeten Frontmanns verzehrt hatte. Der Weg für die Rückkehr Nitzer Ebbs auf die Bühnen war geebnet. Am 02. Juni 2006 spielten sie schließlich erstmals seit mehr als zehn Jahren wieder live. Als Schlachtfeld hielt das Wave Gotik Treffen in Leipzig her, wo etwa 5000 Fans ein souveränes Konzert erlebten. Im Anschluss ging es in drei Etappen auf eine Clubtournee mit über 40 Stationen rund um die Welt. Zeitgleich mit dem Live-Comeback erschien die Best Of „Body Of Work“ auf Mute Records.
FIRE!
Anfang 2007 trafen sich Douglas McCarthy und Bon Harris in Los Angeles, um, abermals unterstützt von Mark „Flood“ Ellis, an neuem Material zu arbeiten. Keine einfache Aufgabe für eine Band, auf der so große wie unterschiedliche Erwartungen ruhen. Die ersten Songs waren bald im Kasten. „Once You Say“ mit Backingvocals von Martin Gore wurde von Dave Clark in dessen Show auf VPRO’s 3 Voor 12 vorgestellt, „Payroll“ fand sich auf dem Soundtrack zu „SAW IV“ wieder. Beide Titel kamen auch live zum Einsatz und ließen keine Zweifel daran, dass Nitzer Ebb sich auf dem richtigen Weg befanden. Wie brillant und relevant sie tatsächlich noch sind, verdeutlicht nun das neue Album „Industrial Complex“. Es beginnt mit einer mitreißenden Sequenzer-Linie, die an die frühen Gassenhauer der Marke „Murderous“ erinnert. „Promises“ steht ansonsten jedoch mit beiden Beinen fest in der Gegenwart und hält auf Länge, was die ersten Töne versprechen. McCarthys Stimme variiert von offensiv bis fragil, das Arrangement ist detailreich, kantig und energisch – das komplette NE-Universum komprimiert auf knapp vier Minuten. Dann „Once You Say“, ein ähnliches Kaliber. Mit seinen Anleihen aus BigBeat und einem markanten, tiefen Basslauf geht es direkt in die Beine. Das schleppende „Never Known“ fusioniert die Essenz der Alben „Showtime“ und „Ebbhead“. Akustische Drums, bluesiges Flair und lasziver Gesang schaukeln sich zu einem wüsten Finale auf. Volle Kraft zurück: „Going Away“ mit düsterer Atmosphäre, zarten Pianosounds und ungeahnter Feinfühligkeit ist neben dem von Alan Wilder (Ex-Depeche Mode) produzierten „Come Alive“, der B-Seite von der EP „As Is“ (1991), die einzige reinrassige Ballade in der Geschichte von Nitzer Ebb, und was für eine! Mit dem Midtempo-Track „Hit You Back“ wird abgerechnet und übergeleitet zum Groovemonster „Payroll“, das mit seiner ausgeprägten Crossover-Note weder vor Sprechgesang, noch derb verzerrten Sounds halt macht. „On Your Knees“, „I Don’t Know You“ und „My Door Is Open“ ziehen das Tempo wieder an, werden von schweren Sequenzern angetrieben und sich als erstklassige Clubnummern etablieren. Auffällig ist auch hier der gereifte Stimmeinsatz McCarthys: Die einst zumeist geschrienen Vocals sind heute melodisch und facettenreich. Dass Nitzer Ebb über einen ausgeprägten Sinn für Melodie und Atmosphäre verfügen, schimmerte in der Vergangenheit schon häufiger durch, allerdings nur dezent. Umso besser, dass das kurzweilige „I’m Undone“ im Anschluss allen Emotionen freien Lauf lässt und das musikalische Spektrum in seiner ganzen Breite nochmals unterstreicht. Ähnliches gilt für „Kiss Kiss Bang Bang“ auf der anderen Seite der Extreme. Es ist hart, stakkatoartig und schlägt mit seinem EBM-Drive eine stählerne Brücke zurück in die späten Achtzigerjahre, bevor mit dem trip-hoppig rhythmierten „Travelling“ das mit Abstand vielseitigste Album der englischen Pioniere geschlossen wird. Ohne Zweifel ist es Nitzer Ebb mit „Industrial Complex“ gelungen, die Vielgestaltigkeit, die alle ihre Werke bislang auszeichnete, zu bewahren und aus dem Querschnitt jeder Ära ein Fundament für den modernen Klang der Gegenwart schaffen. Nur so konnten sie gleichzeitig ihren eigenen Ansprüchen gerecht und ihren Wurzeln hundertprozentig treu bleiben.
NITZER EBB „INDUSTRIAL COMPLEX“ Tracklisting:
01. Promises
02. Once You Say
03. Never Known
04. Going Away
05. Hit You Back
06. Payroll
07. On Your Knees
08. I Don’t Know You
09. My Door Is Open
10. I’m Undone
11. Kiss Kiss Bang Bang
12. Travelling